Grabstein Cuvée
Eine Weingeschichte mit viel Humor im Abgang
Ein phantastischer Jahrgang
Patrick soll Fotos von den schönsten Bahnstrecken Frankreichs machen und findet sich an einem einsamen Bahnhof im südlichen Burgund wieder. Hinter einer dicken Nebelwand verbirgt sich ein idyllisches Dorf, in dem eine erbitterte Fehde um den Wein wütet. Ungewollt gerät er zwischen die Fronten. Wenn er das Dorf jemals wieder verlassen will, muss er den hundert Jahre währenden Streit beenden. Doch dazu müsste er ein Wunder biblischen Ausmaßes vollbringen - und seine einzige Freundin ist eine Ziege.Kurzgeschichte: Grabstein-Cuvée
1. Geweihte Erde
Die Zikaden zirpten. Die Nachmittagssonne ließ die Rosenblüten am Ende der Rebstöcke rot glühen. Die Erde war gesegnet und die da unten besudelten sie mit ihrem Starrsinn. Paulette schnaubte. Sie spie ihre Flüche wie einen Feuerstrahl aus – ein alter Drache ohne Zähne. Doch die brauchte sie nicht zum Beißen, denn der Zorn trieb sie den Hügel hinauf. Kleine Schritte, einer nach dem anderen, nur nicht stehen bleiben. Die Achse am Handkarren hinter ihr knarzte. Die mit Blech beschlagenen Räder rumpelten über den staubigen Pfad. Der Schweiß biss in ihre Augen, doch sie hatte keine Hand frei, um ihn wegzuwischen. Der Rücken, sie würde ihn nie wieder gerade bekommen. Durchhalten! Nur noch diese eine Sache, was danach kommen würde, war ihr egal. Ihre Kehle ausgedörrt, die Schultern schmerzten, die Beine bleischwer.
Sie war die Älteste des Dorfes, trotzdem wollte ihr niemand helfen. Armseliges Pack! Ihr blinder Hass reichte bis über den Tod hinaus. Eine letzte Biegung. Sie musste den Kopf nicht heben. Tausende Male war sie diesen Weg schon hinauf gestiegen, doch niemals mit solch einer fürchterlichen Last im Herzen. Das junge Paar hatte sich ihr anvertraut. Dennoch hatte sie die beiden nicht beschützen können, nicht vor ihrer Verzweiflung. Links die Hütte, zwanzig Meter vielleicht, einmal noch alle Kräfte sammeln. Geschafft! Keine Zeit zum Durchatmen.
Paulette löste die eisernen Haken und die Klappe schwang hinunter. Remi, gerade mal achtzehn Jahre alt. Sie zerrte an seinen Füßen und der tote Körper rutschte über die Planke ins Grab. Sie wickelte ihn in Leinentücher und richtete ihn nach Südwesten aus, so wie die Weinberge seiner Eltern angelegt waren. Jeanne, ein Jahr jünger, nach Südosten. Sie würde im zweiten Grab den Frieden finden, den ihnen die beiden Familien mit ihrer Fehde im Leben nicht gegönnt hatten.
Paulette stach die Schaufel in die lockere Erde. Die Haut in den Händen löste sich schon vom Fleisch. Der Pfarrer wollte die beiden nicht heimlich trauen und in geweihter Erde begraben erst recht nicht. Er hatte es entschieden, eigenmächtig. Sein Gott hatte es ihm nicht verboten. Nun denn, der Boden hier war auch geweiht, aber einem viel älteren Meister. Cabernet Sauvignon, Paulette pflanzte eine Rebe auf Remis Grab – und Pinot Noir auf Jeannes. Es war getan. Erschöpft ließ sie sich auf die Bank vor ihrer Hütte sinken und schlief ein.
2. Käse und Wein
Der Zug ratterte über die Gleise. Die Felder und Äcker zogen gemächlich vor dem Fenster vorbei. Hier und da graste eine Gruppe cremefarbener Kühe – Charolais, man sah keine anderen. Eine idyllische Landschaft – und gleich so viel davon. Ich scrollte durch die Fotos in der Cloud. Jede Bahnstrecke hatte ihren eigenen Charme. Da war die Linie durch die Cevennen. Atemberaubende Viadukte führten durchs Zentralmassiv über tiefe Schluchten mit wilden Flüssen hinweg. Teils auf über 1500 Metern Höhe ging es mit dem historischen Train Jaune durch die imposanten Gebirge der Pyrenäen. Oder hier, die Ligne de la Côte Bleue, eingleisig entlang der malerischen Buchten der Côte d’Azur. Eigentlich mehr als genug Postkartenfotos für den neuen Bildband. Weswegen der Verleger ausgerechnet auf Fotos von dieser Strecke hier durchs südliche Burgund bestand, war mir ein Rätsel. Gewöhnlicher Schienenverkehr wie auf tausend anderen Bahnkilometern bis auf die ganz nebensächliche Tatsache, dass die Gleise inmitten der Einsamkeit von Weinbergen, Wiesen und Feldern einfach so aufhörten, keine zwanzig Kilometer von Mâcon entfernt, mit allerbestem Anschluss nach Lyon im Süden und Paris im Norden – theoretisch. „Bringen Sie mir aktuelle Fotos von dem Dorf!“ Die Tantieme für den Bildband würden mich durch das Prüfungssemester an der Winzerschule und sogar darüber hinaus tragen.
Die Bremsen quietschten und der Zug hielt an. Mit mir stieg nur der Zugführer aus. Er stiefelte von der vorderen zur hinteren Lok. Links vom Bahnsteig strahlte die Sonne auf sattes Weidegras, rechts davon aber prallte sie gegen eine dichte Nebelwand, die das Bahnhofsgebäude wie ein Fallbeil der Breite nach durchschnitt. Der Putz hatte seit Jahrzehnten keine Farbe mehr gesehen und bröckelte von den Mauern. Darin eingelassen hölzerne Fensterrahmen, von denen der Lack abblätterte – und am Boden wilde Kräuter, die aus unebenem Kopfstein heraus wuchsen und in einem Eintopf besser aufgehoben wären. Neben dem Eingang ein Kaffeeautomat, außer Betrieb – alles ganz normal also, wie in Hunderten französischer Dörfer. Perdue-sur-l’Ambigue stand in blassen Buchstaben über dem Bahnsteig, doch weder das Dorf noch der Fluss, die der Name vollmundig ankündigten, waren zu sehen.
„Was ist hinter dem Nebel?“
Der Lokführer stemmte die Fäuste in die Seiten und legte den Kopf in den Nacken, als hätte er die graue Suppe eben erst bemerkt.
„Keine Ahnung. Der ist immer hier.“
„Das Dorf vielleicht?“
„Welches Dorf? Hier gibt es nur Äcker und Wiesen.“
„Wozu dann der Bahnhof?“
Der Mann kraulte sich das Kinn. „Ausgestiegen ist hier noch nie jemand.“ Plötzlich leuchteten seine Augen. „Aber irgendwo muss die Strecke ja enden. Warum nicht an einem Bahnhof?“ Er nickte eifrig, wohl um sich für seinen Geistesblitz zu belohnen. „Wollen Sie wieder mit zurück?“
„Nein, danke. Ich bleibe noch ein Weilchen.“
Der Lokführer zuckte mit den Achseln. „Der nächste Zug geht morgen um dieselbe Zeit.“
„Gibt es hier eine Pension?“
Der Mann lupfte die Kappe und kratzte sich die Haare darunter. Dann zeigte er über ein Maisfeld hinweg. „Das Gîte de Rien in Mouton-le-Bruit, etwa zehn Kilometer von hier.“
„Das ist mir ein bisschen zu weit.“
„Sie können dort sogar mit Ihrem Hund übernachten.“
„Ich habe keinen Hund.“
„Eine Kuh wäre auch kein Problem.“
Ich dankte dem Lokführer für die aufschlussreiche Information. Er tippte an den Schirm seines Käppis und stieg ein. Ich hätte Alice mitnehmen sollen, doch die war für Ausgrabungen in den Senegal gefahren und suchte dort nach den ersten Zeugnissen des Homo Sapiens. Hier hätte sie gar nicht buddeln müssen.
Der Zug fuhr an und ich schoss ihm Foto um Foto hinterher, bis er in einem Meer gelber Rapsfelder am Horizont versank. Die Tür des Bahnhofs war verschlossen – alles andere hätte mich auch überrascht. Ein Igel spazierte über das Kiesbett. Vor dem Gleis der Schacht zu einer Unterführung, zugewachsen mit einem Rosenstrauch. Wohin führte der Tunnel einst? Drüben war kein Weg zu erkennen, nur eine hohe Brombeerhecke und dahinter endlose Einöde. Und auf dieser Seite? Ich legte den Kopf in den Nacken und sah an dem grauen Vorhang hinauf.
Nebel zog auf oder ab und wenn er sich hielt, dann waberte er. So oder so verursachte Nebel immer so was wie Unschärfe – wie eine Wolke, die sich auf den Boden verirrt hatte. Doch dieser hier war ganz anders, kantig, scharf abgeschnitten, wie eine solide Wand, die selbst den Himmel teilte. Ich streckte den Arm aus und die Finger tauchten hinein. Es fühlte sich sachlich an, neutral, wie der Latexhandschuh einer chinesischen Nagel-Stylistin. Ich zog die Hand wieder hervor und betrachtete sie neugierig, ob die Nägel nun lackiert und mit glitzernden Strasssteinen paniert waren. Sie waren es nicht, also wagte ich mich hinein, das Handy mit dem GPS-Signal vor der Nase.
Kies knirschte unter den Sohlen. Ich konnte kaum bis zum Boden sehen und nach vorn nicht weiter als eine Armlänge. Es war nicht feucht hier drinnen und auch nicht kalt – um mich herum nichts als stille Leere, als hätte dieser Nebel den Tag ausgeblutet und all seine Farben verschluckt.
Ich war wohl eine halbe Stunde unterwegs, ohne dass sich der rote Punkt auf der Karte auch nur einen Millimeter bewegt hätte. Selbst als ich die Richtung änderte, blieb die Markierung wie eingefroren. Plötzlich trat mich mein Verstand gegen das Schienbein und schimpfte mich einen Einfaltspinsel, dass ich überhaupt hinein gelatscht war. Mein Herz pochte gegen die Brust, Panik krabbelte mir den Rücken hinauf. Was, wenn ich in eine Blase zwischen Raum und Zeit geraten und nun für ewig darin gefangen war? Ich rannte los – ziel- und kopflos, aber in der Hoffnung, dass die Natur die Überheblichkeit eines jungen Mannes verzeiht, der glaubt, ihm liege die Welt zu Füßen. Doch das hier war gegen die Natur. Schneller und schneller sprintete ich, bis meine Lungen brannten. Dann öffnete sich der Nebel wie ein Vorhang und ich stolperte auf den Bahnsteig.
Die Wiesen, die Büsche, die Gleise – alles drehte sich um mich herum. Ich stemmte mich auf die Füße. Verwirrt sah ich mich um, doch da saß kein Publikum, das mir nach diesem filmreifen Abenteuer applaudierte, und ich konnte wohl kaum einen Souffleur erwarten, der mir zuflüsterte, was geschehen war und vor allem, wie es weitergehen würde.
Eine Armee von Fragezeichen perforierte meinen Verstand und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie besiegen konnte. Ingenieur wie mein Vater oder Winzer? Die Berufe lagen näher beieinander als ich gedacht hatte. Beide arbeiteten analytisch, methodisch und detailgenau und mussten gleichzeitig erfinderisch und offen für neue Erkenntnisse sein. Das, was sich hinter mir abspielte, entbehrte aber jeglicher Logik und ich bezweifelte, dass die Flasche Wasser im Rucksack mein Bewusstsein so weit öffnen würde, eine zu ergründen.
Ratlos setzte ich mich auf die Bank vor dem Bahnhof. Die Hauswand wärmte meinen Rücken. Ich kramte den Comté hervor, brach ein Stück Baguette ab und klappte das Taschenmesser auf. Die scharfe Klinge glitt durch den festen Käse. Die Kruste des Brotes krachte, als ich hinein biss. Ich kaute den Käse unter und spülte mit einem Schluck Wasser nach. Mein Blick verfing sich in den kleinen, schwarzen Brombeeren am Strauch hinter den Gleisen und ich schmeckte die süße Marmelade auf der Zunge, die meine Mutter daraus kochte. Darüber musste ich eingedöst sein. Als ich wieder aufwachte, war es bereits dunkel. In der Ferne grunzte eine Rotte Wildschweine. Mein Magen knurrte und ich schnitt erneut von dem Käse ab. Ich sah auf und fuhr zusammen, denn vor mir stand plötzlich ein Mann.
„Sie trinken Wasser dazu?“
Sein Gesicht war unter der Lampe, die den ganzen Bahnsteig erhellen sollte und dabei kaum stärker als eine Kühlschrankbeleuchtung war, fast nicht zu erkennen. Es erschien jedoch wild, das Kinn kantig und entschlossen, die Nase dominant, dunkle Augen und ein Bartschatten auf der Wange.
„Wie alt?“
„Sechsundzwanzig Jahre.“
„Der Comté.“
„Achtzehn Monate.“
Er nickte. Dann fasste er hinter sich. Ich umklammerte das Taschenmesser und spannte die Muskeln, bereit, ihn mit blanker Klinge anzuspringen. Er aber holte bloß eine Flasche hervor und sah auf das Messer in meiner Hand.
„Ein Laguiole? Sehr gute Wahl. Ein traditionelles Hirtenmesser. Die gingen nie ohne Wein zu ihren Schafen. Soll ich oder wollen Sie selbst?“
Ich klappte den Korkenzieher aus und streckte ihm die Hand entgegen. Der Korken ploppte aus dem Flaschenhals und ich schnüffelte daran. „Cabernet Sauvignon?“
„Was passt besser zum König des Jura als der Löwe unter den Weinen?“ Der Fremde lächelte zufrieden.
„Grenzwertig sag ich mal. Ich würde dem Comté noch ein halbes Jahr geben. Dann ist er intensiv genug, um mit den Tanninen klarzukommen. Doch bis dahin bin ich verhungert.“
Das Lächeln des Mannes erstarb und seine Züge gefroren zu einer Fratze. Er wendete den Kopf und plötzlich erschien sein Gesicht ganz anders. Die Augen waren nun blau, das Kinn rund, die Nase ebenmäßig und die Haut glänzte glatt. Der Schwiegersohn, den sich jede Mutter wünschte.
„Ich sehe, Sie kennen sich aus“, schmunzelte er. Wieder griff er hinter sich und holte eine neue Flasche hervor, die er mir reichte.
Ich zog den Korken heraus. „Pinot Noir?“
„Die fruchtigen Aromen des Weines harmonieren perfekt mit der nussigen, leicht süßlichen Note des Comtée.“
„Das täten sie ganz bestimmt, wäre der Käse ein halbes Jahr jünger.“
Die Kinnlade des Mannes klappte runter und die Augen rollten in den Höhlen. Mir aber machte das Spielchen langsam Freude.
„Für diesen Comté müsste man die beiden Weine zu einem Cuvée verschneiden.“
„Das …, das …, das kann man doch nicht trinken!“ Er fasste sich den Mund, als kämpfte er gegen das Erbrechen an.
„Vielleicht haben Sie aber auch einen Vin Jaune, nicht allzu kühl? Ansonsten bleibe ich beim Wasser.“
Seine Augen suchten hinter der Stirn verzweifelt nach Worten der Entrüstung, doch seine Lippen brachten nur unverständliches Grummeln hervor. Schließlich winkte der Fremde ab und schüttelte dabei fassungslos den Kopf. Dann schritt er geradewegs auf den Rosenstrauch in der Unterführung zu und ging hindurch.
„Ein Dorf, das sich vor mir versteckt, ein ausgezeichneter Käse und zwei Flaschen Wein – man muss dem Schicksal eine Chance geben.“
Ich kostete von beiden Weinen. Sie waren vorzüglich, ein wenig antiquiert vielleicht, dafür atmeten sie Geschichte und zierten sich nicht, ihren eigenwilligen Charakter zu zeigen. Angestachelt vom Ehrgeiz des angehenden Winzers und in Ermangelung eines anderen Amüsements auf dem einsamen Bahnsteig mischte ich die Weine und trank mich zielstrebig zu einem akzeptablen Cuvée durch.