Leidenschaft in Serie
Eine Liebe aufregender als eine Fernsehserie
Sie kennen dich besser als du dich selbst
Luisa lernt im Zug einen Mann kennen. Plötzlich findet sie sich als Hauptdarstellerin der neuesten Fernsehserie wieder. Doch auch ihre Schwester ist scharf auf die Rolle und auf den Mann, der als Preis winkt. Was aber, wenn das Liebesabenteuer nur ein bis ins kleinste Detail ausgeklügelter Plan ist, mit dem Kräfte, die mehr über uns wissen als wir selbst, die beiden Frauen in eine Falle locken wollen? Oder treibt am Ende ein irrer Serienmörder ein sadistisches Spiel mit ihnen?Mystery-Kurzgeschichte: Leidenschaft in Serie
Luisa schaltete den Fernseher ein. Es lief die neue Serie, über die sie alle bei der Arbeit redeten.
Szene im Zug. Ein Mann, Anfang dreißig vielleicht, schwarze Jeans unter dunkelblauer Jacke, setzt sich.
Eigentlich wollte Luisa gar nicht reinschauen, denn sie mochte Filme mit subjektiver Kameraführung nicht. Sie fühlte sich unwohl, eingesperrt in die Perspektive einer einzigen Figur.
Die Kamera mustert den Mann. Breite Schultern, ein Mund, der freundlich aus einem offenem Gesicht lächelt, zum Gruß ein kurzes Nicken.
Luisa erwischte sich dabei, wie sie zurück nickte. „So ein Unsinn!“ Eine Geschichte war eine Geschichte. Warum musste man den Leuten vorgaukeln, sie wären überall mit dabei? Nicht mehr lang und man erkannte nicht mehr, was Show und was Wirklichkeit war.
Die Kamera starrt den Mann an.
Luisa wollte wegsehen, da schwenkte die Einstellung ins Abteil. Soweit sie es überblickte, waren fast alle Sitzbänke besetzt.
Ganz hinten baumeln ein Paar Beine über die Armlehne in den Gang hinein. Die Kamera schwenkt zurück zu dem Mann. Luisa erhaschte den Moment, wie er den Blick von der Frau losreißt und an die Schafe und Kühe auf den Wiesen tackert.
Sie lächelte. „Verflixt! Wie machen die das?“
Am unteren Bildrand ziehen Hände mit rot lackierten Fingernägeln ein Buch aus einer braunen Umhängetasche und schlagen es auf. Das Rattern des Zuges verliert sich und eine weibliche Stimme erzählt:
Imke hob die Füße, doch da lagen keine Turnschuhe herum, die nach dem Joggen im Flur ausdünsteten, und an der Garderobe hingen nur noch ihre Jacken.
Luisa drehte den Kopf und schaute zum Flur. Es war jetzt drei Monate her, dass Daniel fort war.
Imke schob die Tür zum Badezimmer einen Spalt weit auf und schaute hinein. Die Fliesen trocken, der Spiegel nicht von Dampfschwaden beschlagen, keine verschwitzten Klamotten auf dem Boden und die Handtücher ordentlich über die Halter gehängt. Niemand machte sich mehr in ihrem Leben breit. Sie schloss die Augen und badete in der Stille.
„Du sollst dich bei mir wohlfühlen“, hatte sie zu Daniel gesagt – und das hatte er, gleich vom ersten Tag an. Doch mit der Zeit fühlte sie sich damit nicht mehr wohl. Kleinigkeiten, die man mit Kompromissen aus dem Weg hätte räumen können.
Ausgelassenes Lachen vor der Tür holte Imke aus ihren Erinnerungen zurück. Sie spähte durch den Spion. Draußen im Korridor alberten die Nachbarn herum. Er trug die Einkaufstüten, das Grün von Karotten ragte oben heraus. Sie hielt eine Flasche Rotwein im Arm und rührte mit dem Schlüssel im Schloss herum.
Anfangs war Luisa erleichtert gewesen, doch jetzt vermisste sie ihren Daniel. Ja, er war noch immer ihr Daniel, selbst wenn er mit jeder rummachte. Es war seine Art, mit der Trennung fertig zu werden. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass er sich nicht mehr um sie bemühe. Dabei hatte sie sich selbst kein Bein ausgerissen.
Imke seufzte tief aus und schlurfte ins Wohnzimmer. Dort stellte sie das Eichhörnchen aus Pappmaché auf die Kommode zwischen den Fuchs und die Katze und strich mit dem Finger darüber.
Luisa zog die Knie an und starrte zu dem Leoparden aus Pappmaché auf dem Tisch.
Jeden ersten Dienstag im Monat machte Imke früher Schluss und bastelte im Heim. Die Jungen und Mädchen dort waren so herzerfrischend natürlich, weswegen man ihre Behinderung gleich vergaß. Thomas war sofort auf sie zu gestapft, hatte sie an sich gepresst, auf seine ungelenke Art, und ihr einen feuchten Schmatzer auf die Wange gedrückt. Imke liebte die aufrichtige Herzlichkeit, mit der sie jedes Mal empfangen wurde, als käme sie gerade von einer mehrjährigen Weltreise zurück.
„Hängt sie sich wieder an ihre alte Liebe oder öffnet sie ein neues Kapitel in ihrem Leben, was meinen Sie?“
Luisa schreckte auf.
Die Kamera fährt hoch und fängt das Lächeln des Mannes auf der Sitzbank gegenüber ein. Das Rattern des Zuges ist wieder im Hintergrund zu hören.
„Die Geschichte, die Sie lesen.“ Der Mann zeigt auf das Buch. „Imke ist sich nicht mehr sicher, ob die Trennung eine gute Entscheidung war. Plötzlich sitzt ihr ein Mann gegenüber, der ihre Einsamkeit spürt und der fühlt, wie viel sie zu geben hat.“
Luisa schaute links und rechts über die Schulter, doch in der Wohnung war alles so, wie es immer war. Sie rutschte von einer Pobacke auf die andere. Dann zog sie die Sofadecke bis zum Kinn hoch. Was sollte sie tun? Sie hatte sich diese Frage mehr als einmal gestellt. Die Trennung von Daniel, sie war übereilt gewesen. Sie drehte den Ring an ihrem Finger. Dann griff sie zum Handy. Wenn Daniel aber gar nichts mehr von ihr wissen wollte? Sie legte das Handy zurück und sah in den Fernseher.
„Du kennst den Roman? Ich dachte, nur Frauen würden so etwas lesen.“
Die Frau im Zug schlägt das Buch zu und legt es neben sich, wobei sie den Ringfinger unter den Seiten versteckt.
„Wenn Männer auch mal Frauenbücher und Frauen auch mal Männerbücher lesen würden, gäbe es vielleicht weniger Missverständnisse zwischen ihnen“, philosophiert er.
Der Mann war jetzt voll im Flirtmodus, glänzende Augen, verschmitztes Lächeln. Luisa kaute an der Fleecedecke.
„Ich fahre die Strecke täglich. Dich habe ich aber noch nie im Zug gesehen“, meint er.
„Ich nehme normalerweise das Auto, aber heute wollte es nicht anspringen.“
Der Mann nickt. „Dann hat die Technik zur rechten Zeit gestreikt.“
Schon wieder dieses Lächeln, das seinen Zweck nicht verbarg. Luisa knabberte an der Lippe. Die Wellen der vergangenen Jahre hatten ihre Abenteuerlust geschliffen, doch nun regte sich die Neugier wieder.
Die Kamera zoomt das Gesicht des Mannes hell aus dem diffusen Licht im Abteil heraus. Die Frau hält dem Lächeln des Mannes nicht stand und senkt den Blick. Sie wühlt in der Handtasche, findet ihr Handy und tippt den Code ein, doch das Display wird gleich wieder schwarz.
„So was Blödes! Erst das Auto und dann das!“
„Hier, nimm meins!“ Der Mann hält ein Ladekabel hoch.
„Danke, du rettest mir das Leben!“
Der Mann steht auf. „An der nächsten Station muss ich raus.“
„Und dein Kabel?“
„Gib es mir morgen zurück!“
Abspann.
Luisa warf das Kissen auf die Seite und streckte die Füße auf dem Tisch aus. Sie tippte den Titel der Serie in die Suchmaschine, doch die aufgelisteten Webseiten lieferten nur Werbung, ohne etwas zu dem Inhalt zu verraten.
Am nächsten Morgen, noch ein Schluck und die Kaffeetasse in die Spülmaschine. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Luisa blinzelte sich aus kleinen Augen zu. Total verpennter Schlafzimmerblick, wie frisch aus den Daunen geschlüpft. Sie pflückte die Jacke vom Haken und schloss hinter sich ab. In der Tiefgarage drückte sie auf den Autoschlüssel, doch die Blinker leuchteten nicht auf. Sie steckte ihn ins Schloss und stieg in ihr grünes Cabrio, aber der Wagen sprang nicht an. Sie wählte die Nummer des Taxis, legte jedoch gleich wieder auf. Bis zum Bahnhof waren es nur zehn Minuten. Das müsste passen.
„Perfektes Timing!“ Luisa ließ sich auf die einzige noch freie Bank plumpsen und der Zug rumpelte los. Draußen wischten die Gebäude des Industriegebiets an ihr vorbei. Der Baumarkt, Autohäuser, ein Möbelmarkt, dann öffnete sich das Gelände. Die Morgensonne tauchte die Kornfelder in ein warmes Licht. Ein zerdrückter Kaffeebecher XXL und die Tüte einer Bäckereikette quollen aus dem Abfallbehälter an der Bordwand heraus. Darunter, neben der Sitzbank, klemmte ein Buch. Luisa zog es heraus und schlug es irgendwo auf.
„Ich finde einfach nicht den Richtigen“, seufzte Imke.
„Wie denn auch, wenn du dich vor dem Leben verkriechst. Gibt es denn niemanden auf der Arbeit, der dir gefällt?“
„Was zum Teufel ist hier los …?“ Die Bremsen des Zuges quietschten und Luisa schaute zum Bahnsteig. Eine Traube Leute drängelte in die Waggons.
Imke schüttelte den Kopf. Sie musste über die Frage nicht nachdenken.
„Dann fahr doch wenigstens mit dem Zug zur Arbeit.“
„Und was dann? Soll ich mich einem Fremden an den Hals werfen?“
„Aus Fremden werden Freunde, wenn du es nur willst.“
Der Zug fuhr wieder an.
„Entschuldigung! Ist dieser Platz noch frei?“