Nacht der glühenden Augen

ein Gruselmärchen für Kinder ab 7 Jahren

Eine spannende Kurzgeschichte für Mädchen und Jungs - Gänsehaut garantiert - schauerlich und gruselig - mit Öko-Botschaft!
Mond und Wolken am Nachthimmel

Wäre Linus doch nur ins Bett und nicht in den Garten gegangen!

Linus ist ein furchtloser Entdecker, der den Dingen gern auf den Grund geht. Daher will er auch unbedingt herausfinden, warum auf einem Fleckchen Erde in ihrem Garten einfach nichts wachsen will. Er vermutet den Teufel hinter dem Geheimnis, denn der schickt nachts seine Armee der glühenden Augen zu ihrem Haus. Also schleicht sich Linus nachts hinaus und wartet auf den Belzebub. Doch dann passiert plötzlich etwas Ungeheuerliches ...

Die Geschichte ist im August 2022 in der Anthologie "Wo die wilden Geister wohnen" im MTM-Verlag erschienen.
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Nacht der glühenden Augen

Noch tat sich nichts, denn noch tanzten die letzten Sonnenstrahlen auf den Blättern im Garten hinter dem alten Bauernhaus. Jetzt reiften die Möhren, die Kartoffeln, die Kohlrabi, der Porree und die Rote Bete, die Linus Vater im Frühjahr gepflanzt hatte. Inmitten des Blättermeers tat sich eine kahle Stelle von der Größe eines Grabes auf. Hier war noch nie etwas gewachsen, nicht einmal Unkraut. Selbst wenn es regnete, blieb die Erde knochentrocken. Linus hatte das Fleckchen Teufelskissen genannt. Er stellte sich vor, dass der Teufel, als er noch sehr jung war, hier einen seiner Backenzähne vergraben hatte. Sie hatten den Boden gedüngt und gegossen, doch an dieser einen Stelle wollte er einfach nichts annehmen.
Linus kauerte sich vor dem Schuppen unter eine schwarze Decke und ließ die tote Erde nicht aus den Augen. Einmal wollte sein Vater herausfinden, warum dort nichts wuchs, und grub ein Loch. Jedes Mal, wenn er mit dem Spaten zustach, wimmerte der Acker unter seinen Füßen kläglich - entdeckt hatte er aber nichts. Am anderen Morgen fanden sie das Loch wieder geschlossen, als wäre niemals dort gebuddelt worden. Nur ein einziges Mal, seitdem sie in dem Bauernhaus wohnten, hatte das Teufelskissen eine Frucht getragen: Eines schönen Herbstmorgens ragte ein stattlicher Steinpilz keck heraus. Es war der Morgen, nachdem sein großer Bruder Fabian verschwunden war.

Die mächtigen Buchen am Waldrand warfen bereits ihre langen Schatten über die Beete. Nicht mehr lang und es würde beginnen. Viele Nächte schon hatte Linus hier draußen verbracht, ohne dass etwas passiert war. Schließlich fand er heraus, dass die Hölle nur bei Neumond ihre Pforten öffnete. Immer wenn der Mond am Himmel nicht zu sehen war und die Nacht nicht schwärzer werden konnte, erwachte das Grauen in ihrem Garten.
Unaufhaltsam kroch die Dämmerung zwischen die Bäume, Sträucher und Stauden. Die Wildschweine polterten grunzend durchs Unterholz nicht weit vor dem Gartenzaun. Sie bereiteten den Geschöpfen der Finsternis den Weg. Als auch der letzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont versickert war, übernahmen die Herrscher der Dunkelheit die Macht. Aus der Tiefe des Waldes drang das Huu-hu-huhuhuhuu des Waldkauzes bis unter Linus Gänsehaut. Eine Fledermaus schlug hektisch ihre ledernen Flügel, als sie über seinen Kopf hinweg flatterte. Trockene Zweige knackten unter den Füßen eines Dachses, der den Boden nach Schnecken, Mäusen und Früchten absuchte. Anfangs jagten Linus die Geräusche der Nacht noch Furcht ein, doch mit der Zeit verloren sie ihren Schrecken. Heute lauschte er gebannt der Melodie der Düsternis, bis die schwarzen Bestien kommen würden. Auch sie kannte Linus schon und trotzdem erschauderte er immer noch, sobald sie auftauchten. Die ersten Male war er verängstigt ins Haus gelaufen. Doch als er mit seinem Vater zurückkam, waren die schauerlichen Wesen verschwunden. War er allein, starrten sie ihn plötzlich wieder aus feuerroten Augen an.

Wusch! Da glitt das erste Wesen durch die Luft. Linus glaubte, den Luftzug durch die schwarze Decke hindurch zu spüren. Wusch! Noch eines und das nächste. Eines nach dem anderen landeten sie auf den Zaunpfählen. Als sie vollzählig waren, stimmten sie ihr entsetzliches Konzert an. Sie krächzten bös als wollten sie jede Freude aus der Welt vertreiben. Linus presste die Hände auf die Ohren, doch ihr Schimpfen drang hindurch und jagte ihm Angst ein. Nichts sah man von diesen abscheulichen Kreaturen, nichts außer den glühenden Augen, die ihr böses Feuer in die Nacht schossen. Plötzlich, dort wo das Teufelskissen war, kochte das Beet und feiner, weißer Rauch kräuselte sich in den schwarzen Himmel. Unter den trockenen Erdkrümeln glimmte der Boden, als würde sich eine Armee von Glühwürmchen hindurch graben. Vorsichtig krabbelte Linus unter seiner Decke hervor. Er behielt die grausigen Boten des Schreckens im Blick, damit sie ihn mit ihrem Höllenfeuer nicht verbrannten. Stück für Stück kroch er bis an den Rand des Teufelskissens vor. Noch zögerte er, doch dann streckte er seine Hand behutsam aus. Die Erde war flaumig und warm wie ein Bett aus Watte. Das weiche Licht streichelte seine Haut wie eine Feder. Linus streckte sich auf dem Rücken aus und das laute Krächzen der Kreaturen verstummte. Das Licht hüllte ihn wie ein samtener Mantel ein. Er schloss die Augen.
Plötzlich kitzelten feine Fäden in seiner Ohrmuschel und Linus hörte Wasserfälle rauschen, Gebirgsbäche murmeln und die Tiere des Waldes, die sich miteinander unterhielten. Weitere Fäden schoben sich in seine Nasenlöcher und er roch duftende Blumenwiesen, das Harz der Bäume und den würzigen Honig in den Bienenstöcken. Jetzt legten sich neue Fäden wie ein seidiges Tuch auf seine Augen und er sah bunte Schmetterlinge umeinander turteln, Forellen nach Fliegen schnappen und Kälber am Euter der Kühe saugen. Bald war Linus von Kopf bis Fuß eingesponnen und er fragte sich, was das wohl für seltsame Fäden waren, die ihm diese wundervolle Welt zauberten.

„Wir sind Hyphen, die Wurzeln der Pilze. Unser Reich ist unter der Erde und wir sind mit allen Lebewesen verbunden“, erklärte ihm eine liebliche Stimme. „Was wollt ihr von mir?“ „Wir suchen einen Botschafter, der den Menschen erklärt, dass sie die Natur nicht weiter zerstören dürfen.“ In der Schule hatten sie schon viel darüber gelernt, wie man die Umwelt schützen könne. Doch Linus hatte das Gefühl, dass nur wenige bei sich selbst damit anfangen wollten. Wenn sein Vater morgens Brötchen holte, fuhr er mit dem Auto und nicht mit dem Fahrrad. Wenn sie mit der Klasse in den Wald gingen und den Müll einsammelten, lagen dort schon nach wenigen Tagen wieder Tüten, Becher, Dosen und alte Autoreifen herum. Sie waren zum Supermarkt gegangen, wo ihnen der Lehrer die Container gezeigt hatte, in denen so viel Obst und Gemüse verrottete, obwohl man es noch essen konnte. „Wie werde ich denn zum Botschafter?“, wollte Linus wissen. „Nun, wir machen dich für einen Tag zu einem von uns. Wir bringen dir alles über die Natur, die Pflanzen, die Tiere, den Kreislauf des Wassers und die Unendlichkeit der Ozeane bei. Du erfährst die verborgensten Geheimnisse darüber, wie man Energie gewinnt oder Nahrung anbaut und niemand dabei zu Schaden kommt. Die kannst du weitergeben, damit wir künftig miteinander und nicht mehr gegeneinander leben.“ Linus musste nicht lang überlegen und willigte ein. Also spannen ihn die Hyphen weiter ein und er wuchs zu einem großen Steinpilz empor.

Die Sonne kletterte über das Dach des Hauses und Tautröpfchen glänzten auf den roten Äpfeln an den Bäumen. Linus spürte, wie sich das Wissen über die Welt in seinem Kopf ausbreitete. Er verstand plötzlich, wie die Pflanzen das Sonnenlicht einfangen, was eine Maus fühlt, wenn sie ihren Kopf aus dem Loch streckt und warum der Dünger, den wir hier auf unsere Felder kippen, Hunderte Kilometer weiter die Frösche in einem Teich tötet. „Was ist aber, wenn jemand kommt und den Pilz schneidet, so lang ich noch darin stecke?“, fiel ihm plötzlich ein. „Dann wird aus dir ein Rabe“, antworteten ihm die Hyphen. Einer der schwarzen Vögel stieg von einem Zaunpfahl auf und landete neben ihm. „Dein Bruder war auch schon bei uns.“ Da ging die Terrassentür auf. Sein Vater gähnte und streckte die Arme in den Himmel. „Sieh doch, was für ein prächtiger Steinpilz auf einmal im Garten wächst! Das gibt ein schmackhaftes Rührei“, freute er sich. Drinnen rief die Mutter durchs Haus: „Komm runter frühstücken, Linus!“ Doch Linus antwortete nicht.

Ende

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