Fluch der Ewigkeit
Wer ist das Monster?
Selbst der Tod bringt keine Erlösung
Mina, die beste Chirurgin der Stadt, ist fasziniert vom Tod und will sein Geheimnis lüften. Also besucht sie Verbrecher, die auf ihre Hinrichtung warten, und begleitet sie auf ihrem letzten Weg. Niemand kennt ihre dunkle Vergangenheit und das schreckliche Erbe, das sie mit sich herumschleppt. Jetzt aber hat ein Monster ihre Witterung aufgenommen und will ihr genau dieses Erbe abjagen. Doch so gern Mina es auch los wäre, muss sie das Scheusal stoppen - um jeden Preis.Horrorkurzgeschichte: Fluch der Ewigkeit
Die Metalltür in Minas Rücken schepperte ins Schloss.
„Er hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt, doch Sie müssen sich das nicht antun.“
Das musste sie sehr wohl. Er war vermutlich der Einzige, der ihr helfen konnte.
„Warum geben Sie sich überhaupt mit solchem Abschaum ab? Andere Frauen betreuen lernschwache Kinder, unterstützen Geflüchtete oder helfen bei der Tafel.“
Die Sehnsucht zog sie immer wieder an diesen Ort. Sie bedauerte diese Männer für das, was sie verbrochen hatten, doch gleichzeitig war sie neidisch auf das Geschenk, das sie erwartete. Das aber würde der Wärter nicht verstehen.
„Wenn wir ihre Taten begreifen wollen, müssen wir sie studieren.“
„Was gibt es da zu begreifen? Er hat eine ganze Familie abgeschlachtet. Drei Kinder. Er hat Teile von ihnen entnommen und sie gegessen. Sie mussten dabei zusehen. Er zwang sie, sich gegenseitig aufzuessen. Jedes Mal, wenn ich diese Tür öffne, ist es so, als ob ich ein Stück meiner Seele verliere.“
Mina tauchte durch die Augen des Wärters in seine Gedanken und die Bewegungen des Mannes froren ein. „Heuchler! Deine Frau verliert jeden Tag mit dir ein Stück ihrer Seele.“ Sie ließ ihn vom Haken. Er schüttelte sich und drehte den Kopf, als suche er seinen Platz in Raum und Zeit. Dann öffnete er die Klappe in der Tür. Mina schaute hindurch.
„Sie haben ihn gefesselt?“
Der Mann drinnen lehnte stehend gegen eine Konstruktion aus massiven Holzbohlen.
„An den Füßen, den Händen, dem Kopf und der Brust. Der rührt sich kein Stück.“
„Und das Eisengeflecht vor dem Gesicht?“
„Damit er Ihnen nicht in den Hals beißt, wenn sie ihm zu nahe kommen.“
Mina schüttelt den Kopf.
„Ich will, dass er sich frei bewegen kann. Nur so kann ich Vertrauen aufbauen.“
„Vertrauen? Einem Raubtier wie dem? Ich sag Ihnen mal was. Er war die Ruhe selbst bei seiner Festnahme. Hat sich brav auf den Bauch gelegt. Dann haben sie ihm die Handschellen angelegt und er hat einem Polizisten die Beinschlagader durchgebissen. Nicht einmal wir gehen rein, ohne ihn vorher zu betäuben.“ Der Wärter nahm die Kappe ab und kratzte sich im Nacken. „Ich bin froh, wenn es morgen vorbei ist.“
Mina nickte und er schloss auf.
„Ich warte im Korridor. Schlagen Sie gegen die Tür, wenn Sie so weit sind!“
Obwohl sie ihn festgezurrt hatten, atmete der Mann hinter dem Eisengeflecht gleichmäßig.
„Ich wusste, dass du kommen würdest.“
Mina trat einen Schritt vor. Seine Augen blitzten durch die Drähte hindurch. Sie fing seinen Blick ein, fokussierte auf die Pupillen – doch die verdampften ihren Willen. Sie biss sich auf die Lippe, fühlte keinen Schmerz. Sie streckte die Arme aus, die Hände fassten den Maulkorb und zogen ihn ab. Die scharf geschnittenen Züge erinnerten sie an ihn. Sie beugte sich zu ihm vor. Er öffnete den Mund, die Zähne schneeweiß. Sie zog den Kragen ihres Pullis herunter, legte den Kopf auf die Schulter und bot ihm ihren Hals an. Sie spürte das gleichförmige Pulsieren ihrer Schlagader, fühlte die Gier in ihm hochschießen. Er bleckte die Zähne, sog den Speichel ein. Seine Lippen legten sich auf ihre Haut, doch ihr Herz schlug nicht schneller als säße sie im Zug und läse eine Liebesschnulze.
„Du weißt, dass das nicht funktionieren wird“, raunte ihr Lecter ins Ohr. „Ich bin nicht Dracula.“
Sie rollte den Kragen wieder hoch und setzte sich auf das Bett.
„Aber steckt nicht etwas von ihm in jedem von uns, Mina? Genau deswegen bist du gekommen.“ Lecter rieb die Stirn gegen den Lederriemen, der seinen Kopf eingespannt hielt.
Der Mann da kannte sich mit der dunklen Seite der Seele besser aus als jeder andere. Er hatte sie intensiv studiert. Mina sah die Schatten durch ihre Augen, der Doktor hörte sie durch ihre Worte. Er blickte an sich hinab.
„Du würdest gern mit mir tauschen. Ich sterbe morgen, doch das Dunkle lebt weiter.“ Lecter grinste sie aus Krähenfüßen in den Augenwinkeln an. „Bei dir hat es Draculas Biss entfesselt.“
„Aber ich habe es wieder eingesperrt.“
„Ja, das hast du. Du hast dich nicht ein einziges Mal am Blut berauscht.“
Jonathans Liebe hatte sie zu den Lebenden zurückgeholt. Die Transfusion seines Blutes hatte ihren Körper gerettet. Doch es war ihr Wille gewesen, der das unheilvolle Band mit dem Vampir zerschnitten hatte.
„Und das ist dir zum Verhängnis geworden.“
Anfangs musste sie dagegen ankämpfen, später verlor es seine Kraft. Dennoch verließ sie Jonathan. Es ging nicht anders. Sie hatte sich in die Hand geschnitten. Die Wunde verheilte vor ihren Augen. Wie hätte ihr Mann mit der Furcht leben können, dass sie trotz allem nicht mehr dieselbe Frau war? Am Ende war sie es auch nicht.
„Warum ich?“
„Quid pro quo, Mina. Jetzt bist du dran. Du musstest deine Begierde stets unterdrücken. Dracula hat sie befreit. Du warst seine Auserwählte. Warum hast du diese Macht abgelehnt?“
Mina dachte nach.
„Weil sie mich von einem Gefängnis ins nächste gesperrt hätte. Die Gier und die Moral, sie sind beide Verführerinnen. Echte Freiheit findet man nur dazwischen.“
Lecter lächelte. „Ja, in der Selbstbestimmung. Doch die ist für viele die schlimmste Hölle.“
„Quid pro quo, Doktor Lecter. Warum sterbe ich nicht?“
„Du kennst die Antwort, Mina. Du willst sie nur nicht hören. Das Leben hat einen Narren an dir gefressen und nun narrt es dich. Du bist einfach zu gut für den Tod, daher klammert sich das Leben an dich.“
Jonathan und van Helsing hatten Dracula vernichtet und mit ihm die ganze Vampirbrut. Hätte sie sich nicht gewehrt, dann hätte sie mit den anderen Frauen der Herde sterben können. Nun tötete sie nicht einmal ein Pflock ins Herz. Sie hatte es schon etliche Male probiert.
„Heißt das, ich kann den Fluch nur brechen, wenn ich mich der Dunkelheit ausliefere?“
„Dann würde das Leben das Interesse an dir verlieren.“
„Und dazu soll ich Blut trinken so wie er es getan hat?“
„Was wäre so schlimm daran?“ Lecter leckte sich die Lippen. „Aber es reicht schon, wenn du welches vergießt.“
„Ich soll jemanden umbringen?“
„Nicht irgend jemanden, sondern einen, der noch keinen Schatten auf der Seele hat.“
„Ich soll einen unschuldigen Menschen opfern?“
„Sie sind die wertvollsten Opfer.“
Mina schüttelte den Kopf.
„Mehr als hundert Jahre heilst du schon Menschen. Du kochst in Suppenküchen, spendest dein Geld Bedürftigen, liest in Altenheimen vor – ein Einziger von ihnen als Lohn für all diese Wohltaten. Was ist das schon?“
Ja, was war das schon? Ein Einziger und es wäre vorbei. Sie starben zu Tausenden, jeden Tag. „Nein! Lass ihn nicht in deinen Kopf kriechen! Er will dich auch nur verführen.“ Sie sah im fest in die Augen. „Mit so einem Opfer würde ich alles begraben, was ich je gegeben habe.“
„Nun, es ist deine Entscheidung.“
„Gibt es keine andere Lösung?“
Lecter grinste. „Ich könnte dir auch das Rezept von Dr. Jekylls Droge verraten. Du spritzt sie dir und lockst so den Mr. Hyde in dir hervor. Wo aber bliebe dann der Spaß?“
„Sie haben das Rezept?“ Sie riss die Augen auf.
„So alt und doch so naiv!“ Wäre er nicht gefesselt gewesen, hätte Lecter ihr wohl den Kopf getätschelt. „Es gibt keine Droge, es hat sie nie gegeben. Das Dunkle selbst ist die Droge.“
„Dann muss ich wie Dracula werden oder wie Sie?“
„Auf mich wartet der Stuhl und Dracula ist nur noch Staub. Auch für dich wird sich ein van Helsing finden, der dir einen Pflock durchs Herz treibt.“